Visionen

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ hat Helmut Schmidt gesagt. Ich finde, wer Visionen hat, sollte in die Politik gehen. Unsere Vorstellung vom Morgen sollte das politische Handeln von heute bestimmen.

Die letzten Jahre waren stark geprägt von einer Politik des Reagierens: Reagieren auf den Lehrermangel, auf die Herausforderungen der Migration, auf zu wenig Polizeikräfte, auf rechtsextremen Terror, mangelnde politische Bildung, den spürbaren Klimawandel … Was ich dabei vermisse, ist die Antwort auf die Fragen: Wie soll unsere Stadt, unser Land, unsere Gesellschaft in 20 Jahren aussehen? Welche politischen Maßnahmen sind dafür langfristig nötig? Allein die Tatsache, dass aus Visionen konkrete Maßnahmen abgeleitet werden können, zeigt deutlich, dass es sich hier nicht um bloße Träumereien handelt: Die Verwirklichung von Träumen ist knallharte Realpolitik.

In erster Linie wünsche ich mir für unsere Gesellschaft eine Abkehr vom individualistischen Denken zugunsten des Gemeinwohls. Viele Debatten der jüngsten Zeit – etwa die Organspendediskussion oder der Diskurs zur Impfpflicht – zeigen eine klare Abkehr vom solidarischen Denken. Die bedingungslose Verwirklichung des Individuums ohne Rücksicht auf das soziale Miteinander ist das, was mich tatsächlich zu einer besorgten Bürgerin macht. Sich nicht erst engagieren, wenn man selbst betroffen ist, sondern die Anstrengung unternehmen sich vorzustellen, wie sich andere fühlen, das ist mein großer Wunsch für ein gutes Miteinander. Voraussetzung dafür ist auch der Abschied von liebgewonnenen Reflexen. Das Einsortieren von Menschen in Kategorien, der Wunsch, jeden zuordnen zu können, verhindert den unvoreingenommenen Diskurs. Die Lust am Skandalisieren, aus dem Zusammenhang reißen und sich aufregen verhindert eine sachliche Debatte. Wie können wir diesen Zielen einer respektvolleren Kommunikation und dem verstärkten Gemeinsinn näherkommen?

Zunächst gilt: Wir sind alle Vorbilder. Wenn ein Vizekanzler Menschen als Pack bezeichnet, ist das ein willkommener Freibrief für diese, sich noch schlechter zu benehmen. Auch ich muss in mich gehen und prüfen, ob ich den Anspruch von Respekt und Anstand konsequent durchhalte (klare Antwort – tue ich leider nicht). Der wunderschöne Ausspruch „When they go low, we go high“ von Michelle Obama ist eine kluge Anleitung zum Glücklichsein in aggressiven Diskussionen.

Fachpolitisch möchte ich für meine Visionen zwei Themen herausgreifen: die Sozialpolitik und unsere Erinnerungskultur. Krankenhäuser, Kindertagesstätten, Pflegeheime und ähnliche Einrichtungen sind angehalten, wirtschaftlich zu arbeiten und tun dies mehr oder weniger erfolgreich. Hier lastet ein hoher Druck auf den Beschäftigten, den Ansprüchen der Menschen für die sie Verantwortung haben und jener Wirtschaftlichkeit zugleich gerecht zu werden. Populäre Ideen wie „kostenfreie Kitas für alle“ machen die Situation nicht leichter. Nicht wenige Menschen im Sozialbereich können ihre Arbeit nicht bis zum Rentenalter ausfüllen, weil sie zerrieben werden zwischen ethischem und ökonomischem Anspruch. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte, Erzieher/innen, medizinisches Personal, so gut sind, dass sie ihren menschlichen Anspruch an ihre Arbeit voll erfüllen können. Erst dann werden wieder mehr junge Leute bereit sein, sich für solche wichtigen Berufe zu entscheiden. Wie können wir das erreichen?

„Quality first“ – bevor wir beispielsweise über Kostenfreiheit in Kitas diskutieren, sollten wir über die Arbeitsbedingungen reden und wie sie verbessert werden können. Das spricht absolut nicht gegen Kostenfreiheit, sondern ist lediglich eine andere Prioritätensetzung. Überdies werden wir um die Frage nicht umhinkommen, was uns eine gute Pflege wert ist und wer sie bezahlen soll. Niemand möchte, dass alte Menschen in Pflegeheimen nur zehn Minuten individuelle menschliche Betreuung am Tag bekommen, aber wer würde, um das zu ändern, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer mit tragen? Hier sind wir wieder bei meinem ersten Punkt angelangt, dem stärkeren Gemeinsinn.

Unsere demokratische Kultur hängt stark davon ab, ob und wie wir unsere Geschichte begreifen. Schulische Indoktrination mit auserlesenem Geschichtswissen ist krachend gescheitert. Wer das bestreitet, muss sich fragen, warum es Rostock-Lichtenhagen geben konnte. Mein Idealbild ist das des mündigen Bürgers/der mündigen Bürgerin, die auf Grundlage von ausreichend Wissen zu historischen Prozessen ihre eigenen Schlüsse ziehen. Demokratisch denkende Wesen werden nicht erzogen, sie erziehen sich selbst. Dazu benötigen wir Pädagogen und Eltern mit Lust an Kontroverse und Gegenwind. Ein Teil unserer derzeitigen Misere im demokratischen Diskurs rührt auch daher, dass der Widerstreit der Meinungen oft als bedrohlich oder negativ empfunden wird. Das Gegenteil ist der Fall! Doch Meinungsfreude allein reicht nicht aus. Zur Schaffung eines guten Wissensschatzes benötigen wir moderne Stätten der Erinnerungskultur, die den Geist anregen. Wissen wird heute gefährlich, wenn es sich auf fragwürdige Dokumente stützt, und es war nie einfacher, diese in Umlauf zu bringen. Ein gesundes Maß an Quellenkritik kann bereits Jugendlichen helfen, sachliche Informationen von Fake News zu trennen. Was wir für eine gelingende Erinnerungskultur und meine Vision von aufgeklärten Menschen auch benötigen: gesundes Zutrauen in die junge Generation. Dafür gibt es viele gute Gründe.