Interview des Monats: Ein Blick auf China

Kyra Riederer studiert Volkswirtschaftslehre und Sinologie an der TU Dresden und der Universität Leipzig. Ihre ersten Erfahrungen in China sammelte sie 2013 bei einem einjährigen Schüleraustausch. Seitdem gilt ihr akademisches und privates Interesse dem Reich der Mitte.

 

politik.offen: Nicht nur europäische Staaten beklagen seit Wochen die Störung der Lieferketten und des Geschäftsbetriebes durch die chinesischen Coronamaßnahmen. Doch für die chinesische Bevölkerung ist die Null-Covid-Politik Pekings eine viel größere Herausforderung. Wie erklärst Du Dir die strengen Lockdown-Maßnahmen im Kontext unserer lockeren Coronaregelungen hierzulande?

 

Kyra: Die Null-Covid Strategie war lange Zeit Symbol der chinesischen Überlegenheit gegenüber dem Westen. Sie hat fast zwei Jahre ein – in weiten Teilen des Landes – lockdownfreies und wirtschaftsschonendes Leben ermöglicht. Zudem besteht in China ein anderes Verhältnis zum Individuum und zu individuellen Freiheitsrechten als in Europa. Das ist sowohl durch die Regierungsform als auch durch kulturelle Traditionen bedingt. In Shanghai zeigt sich nun die Absurdität der Coronamaßnahmen: Die Lebensmittelversorgung bricht zusammen, Familien werden getrennt, Türen zugeschweißt, Menschen sterben aufgrund von nicht rechtzeitig verabreichten Medikamenten oder Krankheiten, die nicht behandelt werden können, da alle Ressourcen in den Kampf gegen Corona fließen.

 

Hinzu kommt ein immenser Schaden für die chinesische Wirtschaft. Viele Städte sind seit Mitte April im Lockdown, Shanghai ist lediglich die Prominenteste. Ausländische Firmen ziehen sich Stück für Stück aus China zurück, da eine langfristige Planung immer schwieriger wird und kaum noch Ausländer bereit sind, in China zu arbeiten.

Einige Analysten glauben, dass das rudimentäre chinesische Gesundheitssystem in den ländlichen Regionen des Landes auch einer milderen Omikron-Variante nicht gewachsen wäre. Hinzu kommt, dass nur ca. ein Drittel der über 80-Jährigen geboostert sind, noch dazu mit einem Impfstoff, der in Studien deutlich schlechter abgeschnitten hat als die in Europa zugelassenen Impfstoffe. Inwieweit hinter den strengen Lockdowns wirklich die Angst vor hohen Todeszahlen durch Omikron oder ideologische Verbissenheit steckt, lässt sich nur schwer beurteilen.

 

politik.offen: China ist ein bedeutender Akteur auf der Weltbühne. Doch mit Blick auf den russischen Krieg in der Ukraine ist kein eindeutiger außenpolitischer Kurs Pekings zu erkennen. Es scheint, als bemühe sich der Präsident Xi Jinping um Russland als Partner. Doch sein eigenes Land ist wirtschaftlich in hohen Maßen mit dem Westen verflochten. Wie erklärst Du Dir diese ambivalente Haltung Chinas?

 

Kyra: China befindet sich in einer Zwickmühle. Zum einen sieht man sich gemeinsam mit Russland als Gegenpol zu der NATO und den USA. Zum anderen hat die chinesische Führung kein Interesse an einer direkten Auseinandersetzung mit der NATO. Eine militärische Unterstützung Russlands würde – laut Aussagen von US-Präsident Biden – zu einer solchen direkten Konfrontation führen. In den chinesischen Staatsmedien dominieren russlandfreundliche Berichte, der Begriff der Invasion wird nicht verwendet. Trotzdem wurden chinesische Staatsbürger nach Kriegsausbruch aus der Ukraine evakuiert. Gerade im Hinblick auf die Taiwan-Frage hat China in der Vergangenheit international immer wieder auf territoriale Unversehrtheit und Nicht-Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten gepocht. Doch genau eine solche Einmischung liegt nun im Fall der Ukraine vor.

 

politik.offen: Du warst selbst für einige Zeit in Taiwan. China betrachtet den Inselstaat als Teil seines Territoriums. Der Konflikt zwischen den beiden Staaten schwelt seit mehr als 70 Jahren. Siehst Du darin einen ähnlichen Konfliktherd wie in der Ukraine?

 

Kyra: Es gibt definitiv viele Parallelen. Heute werden die Entwicklungen des Krieges und das Verhalten der NATO in Taipeh genau beobachtet. Auch wenn Han-Chinesen und die Mehrheit der Taiwanesen derselben Ethnie zugeordnet werden, ist in den letzten Jahrzehnten zu beobachten, wie sich eine eigenständige taiwanesische Identität bildet. Umfragen zeigen, dass sich eine überwältigende Mehrheit von über 80 Prozent der Bevölkerung gegen eine Wiedervereinigung mit der Volksrepublik ausspricht. Eine fast ebenso große Gruppe ist bereit, ihr Land im Falle eines Angriffs auch militärisch zu verteidigen. Ähnlich wie die russische Armee in der Ukraine ist die chinesische Armee der taiwanesischen an Ausrüstung und Stärke überlegen. Allerdings ist ein chinesischer Angriff nur über die felsige Westküste Taiwans möglich, welche mit Frühwarn- und Abwehrsystemen ausgestattet ist und als sehr schwer einzunehmen gilt. Hinzu kommt die Angst vor einem zermürbenden Guerilla-Krieg.

Seit 30 Jahren mutmaßen Kommentatoren und Militärstrategen, welche Partei im Falle einer militärischen Konfrontation gewinnen würde; einig ist man sich keineswegs. Als weitere Abschreckung fungiert der „Taiwan Relations“ Act zwischen Taiwan und den USA, der im Falle eines Angriffs militärische Unterstützung durch die USA zusichert; unter diesem Vertrag liefert die USA auch Kriegsgerät nach Taiwan. Trotzdem stellen einige Experten die Position der USA im Falle einer militärischen Auseinandersetzung in Frage. Gleichzeitig bleibt fraglich, ob China zum jetzigen Zeitpunkt eine direkte Konfrontation mit den USA riskieren würde.

 

Zur Geschichte Taiwans

Die chinesische Regierung betrachtet Taiwan als Teil des chinesischen Staatsgebiets. Japanische Truppen kapitulierten 1945 und gaben die bis dahin japanische Kolonie Taiwan an die Republik China und damit auch der regierenden Kuomintang zurück. Auf dem chinesischen Festland spitze sich zu jener Zeit der Bürgerkrieg zwischen der Kommunistischen Partei und der Kuomintang weiter zu, die Kuomintang verloren und zogen sich auf die Insel Taiwan zurück, welche zum verkleinerten Staatsgebiet der Republik China wurde. Es folgte ein über 30 Jahre rechtlich geltender Ausnahmezustand aus Angst vor kommunistischen Umsturzversuchen. Erst in den 1980er-Jahren demokratisierte sich Taiwan zusehends.