Zur Erinnerung an Ellen Thiemann

Es war im Jahr 2010, ich war gerade 30 Jahre alt und neu als Abgeordnete tätig. Da wurde ich auf Ellens Buch „Der Feind an meiner Seite“ aufmerksam und lud sie zu einer Lesung nach Chemnitz ein. Ihre Art zu schreiben und ihre Geschichte hatten mich sehr beeindruckt.

Mein Mitarbeiter holte Ellen vom Flughafen ab und ich traf sie eine halbe Stunde vor der Veranstaltung zur Absprache von Details. Ellen war sehr konzentriert und aufmerksam. Das Publikum scannte sie gleichsam mit ihren Augen ein. Sie las und erzählte sehr professionell, aber dennoch nicht ohne eine gewisse Nervosität. Im Rahmen des Publikumsgesprächs meldete sich ein Herr, noch nicht alt, und fragte sie, ob sie sich denn tatsächlich berufen fühle, die Geschichte objektiv zu beurteilen, da sie ja Opfer einer enttäuschten Liebe sei. Diese gezielte Boshaftigkeit und Respektlosigkeit verschlugen mir damals den Atem. Ellen reagierte souverän. Doch es ließ sie den ganzen Abend nicht mehr los. Nach der Veranstaltung kauften viele Menschen ihre Bücher und drückten ihren Respekt aus. Ich fuhr Ellen zu ihrem Hotel. Dort tranken wir noch etwas an der Bar zusammen. Die Männer, welche zum Fußballschauen an der Bar saßen, registrierten die elegante Erscheinung Ellens genau. Ellen quittierte das mit einem freundlichen Spruch, war aber distanziert. Sie war eine echte Lady. Ich sagte ihr zum Abschied, sie solle nun gut schlafen. Da erzählte sie mir, dass sie meist nur eins, zwei Stunden schlafen könne. Das und die Art wie sie durch den unverschämten Frager bewegt war, beschäftigte mich noch länger. Ich fuhr mit tiefen Eindrücken heim. Ich hatte eine ganz besondere Frau kennengelernt, die sehr stark, aber auch sehr nachhaltig berührt von ihrem Schicksal war. Sie schrieb mir persönliche Worte in ihr Buch als Widmung. Nichts Beliebiges, denn Beliebigkeit war nicht ihre Sache.

Ich empfahl meinen Kolleginnen im Landtag, Ellen einzuladen. So kam sie nach Pirna und wir trafen uns erneut. Ein nächstes Mal lud ich sie zur Eröffnung der Hohenecker Frauen-Ausstellung ins Rathaus Chemnitz ein. Die Oberbürgermeisterin begrüßte und der Saal war überfüllt. Beides tat Ellen sehr gut. Es war ihr wichtig, von offizieller Seite Anerkennung für ihr Thema zu erhalten und zu sehen, dass viele Menschen Interesse bekunden. Ich war sehr froh, ihr an dem Abend Beides bieten zu können, denn in Pirna saßen wir vor etwa zehn Personen.

Ellen und ich hatten seit dem ersten Treffen einen persönlichen Kontakt aufgebaut. Wir telefonierten oder schrieben Mails. Ellen hatte immer etwas zu tun, ich fragte mich oft, woher sie die Kraft dafür nahm. Vielleicht von ihren Enkelinnen und ihrem Sohn, sie schwärmte sehr von ihnen. Als ich meine Tochter zur Welt brachte, schickte sie mir Geschenke für die kleine Erdenbürgerin. Ein Mäntelchen mit Leopardenmuster. Typisch Ellen! Ihre Art, sich mit Mode zu beschäftigen, hatte auch etwas mit dem Erhalt von Würde zu tun. Aus ihren Büchern liest man das ganz deutlich. Dass sie sich nicht brechen lassen wollte, drückte sie auch in ihrem Äußeren aus.

Mein letztes Treffen mit Ellen hatte ich im Dresdner Schillergarten mit ihrem Bruder. Ellen sah wie immer wunderbar aus, aber es ging ihr nicht gut. Sie klagte über Magenschmerzen und war sehr angestrengt. Dennoch freuten wir uns sehr über das Treffen. Am Ende machten wir ein Selfie vor dem Blauen Wunder. Ich habe Ellen irgendwie immer wahrgenommen, als sei sie eine junge Frau. Die Wochen darauf schrieben wir uns und dann erfuhr ich auch ihre traurige Diagnose. Dass ein Mensch so vom Schicksal geprüft wird, macht mich manchmal ratlos.

Am 5. Mai vorigen Jahres arbeitete ich die ganze Nacht im Kaßberg-Gefängnis, wo wir an das Schicksal der politischen Häftlinge in der DDR erinnerten. Über 1000 Menschen kamen zu uns. Ellen hätte das sicher sehr gefallen. Am nächsten Morgen erwachte ich, sah auf mein Telefon und da stand die Nachricht ihres Sohnes, dass sie gestorben sei. Obwohl ich wusste, dass sie krank war, schlug das ein wie ein Blitz. Auch heute noch bin ich sehr traurig, wenn ich an diesen Moment denke.

Nun habe ich einen sehr persönlichen Text geschrieben. Ihre politische Lebensgeschichte war eine sehr persönliche, die sie auf hervorragende Weise ins Große und Ganze übertrug. Ellen forschte nicht allein über sich, sie war unermüdlich in ihrem Engagement, die Dinge aufzudecken. Sie konnte unerbittlich sein, sie hatte eine große sprachliche Gabe, künstlerisches Talent und Herzenswärme. Ich hätte ihr gewünscht, dass die Gespenster von Hoheneck sie in Ruhe ließen. Damit sie ihr Leben mehr genießen kann. Ich glaube, das tat sie zumindest, wenn sie bei ihren Enkelinnen war. Sonst war ihr Leben sehr stark bestimmt davon, über die Vergangenheit zu forschen, ich glaube, sie konnte gar nicht anders. Ich vermisse ihre energische Art und das Damenhafte an ihr, ich kenne keine Frau außer Ellen, die Eleganz und Kampfgeist so vereint.


Am 10. Mai 2019 findet aus Anlass des ersten Todestags von Ellen Thiemann im Kulturstudio F19 in Essen-Rüttenscheid um 15.30 Uhr eine Gedenkstunde zum einjährigen Todestag der Journalistin, Autorin, ehemaligen Hoheneckerin und Künstlerin statt. Neben Lesung, Vortrag und Zeitzeugengespräch wird auch eine Ausstellung mit Werken Ellen Thiemanns präsentiert.