Banalitätsproblem im „SPIEGEL“

Es scheint mir nachvollziehbar, dass in den heutigen Tagen der SPIEGEL lieber durch inhaltsarme als inhaltlich falsche Artikel punkten möchte. Insofern nehme ich gleich vorweg: Im Artikel ist nichts gelogen, nichts hinzu gedichtet oder falsch. Er enthält im Ganzen: Alles, was ohnehin schon bekannt war, zudem zwei Interviews mit Chemnitzer Kennern der Materie und eine Überhöhung der Person Martin Kohlmann, bei deren Lektüre man den Eindruck gewinnen kann, er würde mit seiner Bürgerwehr morgen Polen überfallen. Banalen Fragen folgen banale Antworten, angereichert mit ein paar Binsen à la „Rassismus ist kein rein ostdeutsches Problem“ und sinnfreien Informationen („Der Chemnitzer, Dreitagebart und marineblauer Anzug, empfängt im schmucklosen Besprechungsraum (…)“ ergibt der Artikel genau jenes grausiges Gemisch was dafür sorgt, dass uns ganz sicher auch morgen noch Freunde aus dem Westen anrufen und fragen, ob es sich wirklich empfiehlt zur nächsten Geburtstagsfeier hier her zu kommen. Ein paar Unschärfen möchte ich gern heraus greifen, um am Text des Autors zu bleiben:

Peter Maxwill hat, wie hundert Journalisten vor ihm, die Chemnitzer Innenstadt besucht. Er stellt fest, dass es einen gigantischen Karl-Marx-Bronzekopf gibt, dann bewertet er das Gedenkschild für Daniel Hillig. Es geht darum, wie spärlich die Beschriftung des Gedenkschildes ausgefallen ist, nur das Sterbedatum und der Name „so als wäre damit schon alles gesagt“. Nein Herr Maxwill, damit ist noch nicht alles gesagt, aber was es zu sagen gibt, passt eben auch nicht auf eine solche Platte. Zum heutigen Tage hätte auf der Platte stehen müssen: „Nach Stand der Ermittlungen Opfer einer Auseinandersetzung, die zum Tod führte und bei der ein weiterer Mann durch ein Messerstich verletzt wurde“ – in den nächsten Wochen kann sich der Text allerdings noch ändern. Den „Beginn einer beispiellosen Eskalationsdynamik“ habe man nach dem Tod von Daniel H. erlebt. Nein Herr Maxwill, die Zusammenrottung von Menschen, die zu Gewalt und Hetze führt, ist leider weder in der neuesten Geschichte noch im Mittelalter beispiellos. Das macht sie nicht weniger tragisch.

Der Freistaat Sachsen hat unlängst ein Imagevideo veröffentlicht, das versucht, Nuancen unserer Stadt zu zeigen. Maxwill kritisiert: „Gewalt und Extremismus thematisiert das Video nicht“. Bei dieser Passage wusste ich nicht genau, ob ich lachen oder weinen soll. Vielleicht gibt es ja Imagevideos, in denen Städte mit negativen Zäsuren werben, etwa: „Solingen – Stadt des Brandanschlages“, oder „Rostock – Wiege der Angriffe auf Asylbewerberheime in Ostdeutschland“. Mir ist dergleichen nicht bekannt und ich hatte den Sinn von Imagefilmen bisher anders verstanden.

Die Hauptsatzolympiade des Autors endet apokalyptisch: „Sie haben lange gesät. Jetzt geht’s an die Ernte“. Nachdem ich mich kurz an John Steinbecks „Früchte des Zorns“ erinnert fühlte, fragte ich mich: Warum diese Endzeitstimmung? Wem nützt das? Haben wir nichts von alldem noch selbst in der Hand. Aber doch! Es heißt in dem Artikel, Chemnitz habe keine ausgeprägte linke Szene wie Leipzig und kein Bürgertum wie in Dresden. Zum Ersten ist zu sagen – ja, das kann quantitativ stimmen; zum Zweiten – hätten wir ein Bürgertum wie in Dresden, wären unsere Probleme mit rassistischen Denkweisen nicht unbedingt kleiner. Es entsteht der Eindruck als sei alles, was sich außerhalb des Bürgertums und der linken Szenen bewege ein unpolitischer Raum. Genau das stimmt nicht. Und genau das hätte sich gelohnt, in Chemnitz genauer anzusehen. Der Autor wirft den Machern des Imagefilms Einseitigkeit vor, ist aber nicht selbst bereit, die ganze Bandbreite der Stadt Chemnitz zu betrachten.

Implizit verlangt der Artikel, die Stadt möge sich aufgrund ihrer Probleme mit Rechtsextremismus selbst kasteien. Da habe ich eine Idee: Wir könnten unsere Autobahnwerbetafel „Stadt der Moderne“ nocheinmal überdenken. Der Slogan hat ohnehin zu viele Kritiker. Wir könnten auf „Stadt mit dem mehr als mittelgroßen Problem mit Rechtsextremismus“ umschwenken. Sollte sich dazu eine Mehrheit finden, ich würde Herrn Maxwill gern zur Einweihung einladen.