Rede von Hanka Kliese anlässlich des Auftaktes der Feierlichkeiten zum 27. Tag der Deutschen Einheit in Gießen

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, lieber Roland Jahn, geehrter Herr Dr. Brake, liebe Gäste,

es ist kein persönliches Verdienst, in einer Diktatur oder einer Demokratie aufgewachsen zu sein.  Dies gilt für die Zeit des Kalten Krieges ebenso wie für heute.  Einen Neuanfang anderswo zu beginnen und dabei auf die Solidarität Anderer zu hoffen, das war ein zentraler Gedanke für unsere Ausstellung.  Auf dem Weg zum Rathaus haben wir uns heute gefragt: „Was wäre gewesen, wenn die Menschen in Gießen genauso ablehnend auf die Neuankömmlinge reagiert hätten, wie manche Sachsen dieser Zeit?“

Als Herr Dr. Brake mir erstmals Fotos für unser Projekt zusandte, haben wir sie lange betrachtet: Sie zeigen Menschen, die nach Essen anstehen, wartend auf Doppelstockbetten sitzen und sich die Zeit vertreiben. Menschen, die mit nichts gekommen sind. Jede Geschichte ist individuell und man kann sie schwer vergleichen, vielmehr nur nebeneinander darstellen und dem Betrachter überlassen, sich eigene Gedanken zu machen.

„Freiheit“ ist ein großes Wort, so heißt es. „Freikauf“ ist auch ein großes Wort. Dahinter stehen ca 33.000 Menschen. Unser Ziel war es, dieser großen Zahl das Mächtige und Abstrakte zu nehmen und den Einzelnen, die Einzelne dahinter zu zeigen. Dem Schicksal politischer Häftlinge in der DDR ein Gesicht zu geben. Eines davon ist das von Sabine Popp, die heute mit uns hierhergekommen ist. Sie wollte nicht um jeden Preis in den Westen, sie wollte als 19jährige über die politischen Verhältnisse diskutieren, provozieren, ihre Meinung kundtun. Etwas, was wir uns von jungen Leuten in ihrem Alter heute durchaus mehr wünschen würden. Sie schrieb auf die Straße Parolen wie „Wir wollen die Wiedervereinigung“. Schließlich wurde sie von einem Freund verraten und verbüßte eine mehrjährige Haftstrafe im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck. Der Freikauf war für sie Erlösung und Last zugleich. Sie war glücklich, in die Freiheit des Westens entlassen zu werden. Doch wie für etliche andere bedeutete der Freikauf für sie auch Abschied auf unbestimmte Zeit: von ihren Eltern, Freunden, ihrer Schwester, ihrer Heimat, in die sie nach dem Mauerfall zurückkehrte.  Für die Angehörigen Freigekaufter war Sippenhaft an der Tagesordnung, sie mussten oft neben dem Weggang eines geliebten Angehörigen weitere staatliche Repressionen hinnehmen.

Auf der Suche nach Gesichtern für unsere Ausstellung wurde uns einmal mehr bewusst, dass in unserem Verein die Zahl der tatsächlich frei gekauften in der Minderheit ist. Unsere aktiven Zeitzeugen haben zwar Teile ihrer Haftzeit auf dem Kaßberg verbüßt, die freigekauften unter ihnen sind aber in alle Winde verstreut. Rein zufällig lesen wir manchmal von berühmten Persönlichkeiten, die auch über den Kaßberg in die Freiheit kamen, etwa der Schriftsteller Klaus Kordon. Oder wir bekommen eine E- Mail aus den USA von einem ehemaligen Häftling.  Und natürlich hoffen wir immer noch ein bisschen, dass sich eines Tages ein Millionär bei uns meldet, der auch freigekauft wurde, und uns unseren größten Wunsch, eine dauerhafte Gedenkstätte zu errichten, erfüllt. Bis der sich findet, versuchen wir es zunächst mit Fördermitteln der Stadt Chemnitz und des Freistaates Sachsen.

Auf einen Freikauf gehofft hatte zu seiner Haftzeit auch Christian Bürger, der heute ebenso Teil unsere Delegation ist. Er war wegen eines geplanten Fluchtversuches inhaftiert. Ihm wurde die so genannte Strauß-Amnestie – die Freilassung politischer Häftlinge im Zuge großzügiger Kredite – gleichsam zum Verhängnis, denn er wurde in die Unfreiheit der DDR zurück entlassen. Von dort musste er weiter nach Wegen suchen, die Grenze zu überwinden und wurde am Ende sogar zum Sprecher der Flüchtlinge in der Prager Botschaft.

Unsere Ausstellung zeigt eben solche Biographien und zudem die Geschichte unseres Gefängnisses, in dem wir seit fast sechs Jahren ehrenamtlich Erinnerungsarbeit leisten und das auch im Dritten Reich eine traurige Rolle im Bereich der Unterdrückung politischer Gefangener spielte.

„Wir wollen die Wiedervereinigung“ schrieb Sabine Popp auf die Straße und musste für diesen Satz bitter bezahlen. Inzwischen haben wir die Wiedervereinigung seit einem viertel Jahrhundert und ihr Glanz scheint zu verblassen. Vergessen scheint mancherorts, wie wirkliche Einschränkung von Meinungsfreiheit aussehen kann und was es bedeutet, in einer Mangelwirtschaft zu leben. Auch diesen Tendenzen wollen wir mit unserer Arbeit entgegenwirken.

In unserer Arbeit betonen wir stets, dass es sich bei unserem Alleinstellungsmerkmal, dem Häftlingsfreikauf, um ein gesamtdeutsches Thema handelt. Tatsächlich wird das Thema politisch leider zu oft als ein ostdeutsches betrachtet. Es ist für uns auch deshalb etwas sehr Besonderes, hier bei Ihnen in Gießen sein zu dürfen.

Alles hinter sich zu lassen und neu anfangen, das kann nur gelingen, wenn der Ankunftsort ein guter ist und die Menschen sich dort solidarisch zeigen. Betrachten Sie unseren Besuch hier in Gießen auch als einen späten Dank für das, was Bewohner Ihrer Stadt für die freigekauften Häftlinge getan haben.