Kultur des Hinsehens anstelle eines Boykotts

„Die Situation in der Ukraine ist seit längerem bekannt. Dass das Land – gemäß der Bewertung der Nichtregierungsorganisation ‚Freedom House‘ – seit 2010 als nur ‚teilweise frei‘ eingeschätzt und die Opposition hier systematisch unterdrückt wird, war und ist kein Geheimnis. Insofern stelle ich die Sinnhaftigkeit eines jetzigen Boykotts durch politische VertreterInnen in Frage“, so die sportpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag.

„Vielmehr sehe ich die Chance, dass durch das Sportereignis im Sommer eine Kultur des Hinsehens etabliert werden kann. Hier sind kritische Journalisten gefragt, die über die Menschenrechtssituation im Allgemeinen und die Situation der Opposition in der Ukraine im Besonderen berichten. Aus menschenrechtlicher Sicht darf es nicht allein um den Fall Julia Timoschenko gehen. In der Ukraine gibt es viele Baustellen, die mit unseren Wertmaßstäben von Freiheit und Demokratie nicht vereinbar sind. Der Umgang mit Oppositionellen im Land und die Presse- und Internetfreiheit sind nur einige. Ich finde es gut und richtig, dass Bundespräsident Joachim Gauck seinen Protest geäußert hat. Auf diese Ebene gehört der Protest! Aber auch Sportler und Sportfunktionäre sowie angereiste Fans können vor Ort ihren Protest über Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck bringen. Insofern begrüße ich den Vorschlag von Uli Hoeneß, der die Spieler ermutigt, sich kritisch zu äußern“, so Kliese weiter.

 „Als sportpolitische Sprecherin schlägt mein Herz nicht zuletzt für die Sportler. Alle haben sich monatelang auf dieses Ereignis vorbereitet. Für einige ist es gar die letzte Teilnahme an einer Europameisterschaft. Soll deren Einsatz und Engagement jetzt boykottiert und nicht unterstützt werden?

Ich fordere stattdessen die Sportfunktionäre auf, bereits bei der Vergabe von internationalen Sportveranstaltungen die Menschenrechtssituation vor Ort in den Ländern zu prüfen und hier demokratische und menschenrechtliche Maßstäbe in die Entscheidung einfließen zu lassen.“

Hanka Kliese weiter: „Sorge bereiten mir in diesem Zusammenhang auch die Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi. Die Menschenrechtssituation in Russland stellt sich gemäße ‚Freedom House‘ noch prekärer dar, wird doch das Land von der NGO bereits seit 2004 als ‚nicht frei‘ und zuvor seit Beginn der 1990er Jahre als ‚teilweise frei‘ eingestuft. Auch hier hätte im Vorfeld eine Prüfung der Menschenrechtssituation stattfinden müssen.“

Hanka Kliese abschließend: „Zudem haben Moskau 1980 und Los Angeles 1984 gezeigt, dass Boykotte von Sportveranstaltungen nichts an der Lage vor Ort ändern und ein Relikt des Kalten Krieges sind. Menschenrechtsverletzungen in Ländern lassen sich wahrlich auf anderen Wegen lösen.“

Chemnitz, den 30. April 2012